Mai 1968 – und die Kunst
Die herrschende konservative Presse überschlägt sich derzeit mit Artikeln über die Historie der 1968er. Da nehmen sich manche der Texter in soziologischer Anmassung der damaligen Geschehen an, scheuen sich keine politischen Mutmassungen, diskreditieren die Aktivistinnen und Aktivisten als post-pubertierende junge Menschen, die sich respektlos gegenüber der Tradition gebaren. Wer tatsächlich vor 50 Jahren ideenreich für Reflexion, für Veränderung eintrat, es war die Kunst in vielfältiger Weise.
Das zu ignorieren, ihren Einfluss auf die Gesellschaft, ihre Impulse auf die Ereignisse, ihre Initiativen zu negieren und vor allem die uneingeschränkte Solidarität samt ihrer Aktivitäten als integrativen Bestandteil des Aufstandes zu missachten, heisst, die Künstlerinnen und Künstler als Teil des Mai ’68 zu übersehen, ganz besonders sie in Paris.
Fingerzeige für die Zukunft
Die in Aachen zu sehenden Flashes of the Future – Die Kunst der 68er oder Die Macht der Ohnmächtigen – kuratiert von Andreas Beitin und Eckhart J. Gillen http://ludwigforum.de/event/flashes-of-the-future/, ist eine so gelungene den historischen Begebenheiten würdigende Ausstellung – und der bedeutende Beitrag zur Darstellung der Geschichte, die Kunst in den 68er Jahren.
Diese Exposition gliedert sich in verschiedene Bereiche: Globaler Protest, Kunst und Leben – Emanzipation und Partizipation, Die 68er im Osten Europas und Ausblick: Terror, Feminismus, Normalität?
Dorothy Iannone, „My heart in hiding“ (l.), I Have Such a Marvelous Cock (aus der Serie “Eros”) (r.), „Flashes of the Future – Die Kunst der 68er oder Die Macht der Ohnmächtigen“, Ludwig Forum, Aachen
Jeweils beispielhaft illustrieren und dokumentieren Exponate die Folgen der Zeit und in verschiedenen Ländern. Alle diese Sektoren geben anhand der Kunstwerke Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt der Schaffenden, die letztlich neben ihrer Lebensäusserung auch die des sozialen Umfeldes reflektieren. Kunst suspendiert sich nie von Zeit und Ort.
Das, was Beitin und Gillen da zusammentrugen, ist überwältigend und einmalig.
Das Buch zur Ausstellung
Die Publikation von Andreas Beitin, Eckhart J. Gillen samt Redaktion und der Bundeszentrale für politische Bildung stellt ein wirkliches Lese-, Lehr- und Lernbuch dar – mehr als einen Ausstellungskatalog.
Kunst war damals nicht fixiert auf Verkaufschancen im Gegensatz zu heute, wo nicht selten (angepasste) Kunst unter Blickwinkeln einer Marktgängigkeit entsteht. Kunst damals hatte mit Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Solidarität … zu tun. Die Kunstschaffenden waren sich in der Zeit auch ihrer politischen Verpflichtung und Verantwortung bewusst.
En mai, fais ce qu’il te plaît (Maurice Grimaud) ….
Die Kunstschau umfasst auch die Anfänge …. vor und nach 1968 – und blickt auch über die europäischen Grenzen…. Die historische internationale Darstellung im Ludwig Forum beeindruckt, war man damals letztlich doch eher mit den Ereignissen vor der Tür und in ihrer Nähe befasst.
Gerade die Aufzeichnung des Beginns relativer Aufstände und die Gegenwehr gegenüber reaktionären, autoritären Strukturen signifiziert die Bedeutung ihrer Epoche und macht die Ausstellung so wichtig. Etwa damalige Pariser Politfiguren begriffen den Ernst der Lage nicht und bezeichneten verächtlich den berechtigten militanten Protest als puren Klamauk – Happening.
Doch es kann nicht sein, dass aus dieser wichtigen Zeit, ob hinsichtlich der Kunst, der Gesellschaft und der Politik, keine lang- und nachhaltigen Konsequenzen gezogen wurden und werden.
Denn ….die Herstellung von Kriegsgerät mit dem Ziel der Tötung von Menschen, Zerstörung von Leben und Wohnen, die Vernichtung von Natur und Umwelt ….., die Missachtung von Individualität, Freiheit von Kunst, Meinung und Freiheit – alles ist geblieben…… Die Methoden und so weiter haben sich geändert, Motive und Ziele nicht.
Jean-Jacques Lebel – ein Protagonist der Barrikaden
Die künstlerischen Beiträge weisen eindringlich und ohne Belehrung auf die Zeiträume hin. Kunst hat einen Anspruch auf gesellschaftliche Reaktionen, auf ihre Fragen auch Antworten, auf ihre Statements ebenso Äusserungen. Nicht absurd, wenn Jean-Jacques Lebel, dem die Galerie du Musée des Centre Pompidou https://www.centrepompidou.fr/cpv/resource/cgEGr89/raEgrk7 mit L’Outrepasseur (Commisaire Nicolas Liucci-Goutnikov) ab 30.Mai 2018 eine Ausstellung widmet, behauptet: Il n’est d’art qu’insurrectionell. Lebel war damals einer der Protagonisten der Pariser Kunstszene, die sich dem Aufstand anschloss.
In dem ZKM |-Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe zeigte der französische Künstler zum Thema Beispiele der Kunst (Die höchste Kunst ist der Aufstand, Kurator Bernhard Serexhe) https://zkm.de/de/event/2014/07/jean-jacques-lebel-the-highest-of-all-the-arts-is-insurrection. Interessant auch die seinerzeit parallel verlegte Lektüre Jean-Jacques Lebel Barricades von Axel Heil, Robert Fleck, Alyce Mahon, 2014 ISBN 978-3-86335-659-0 (deutsch), ISBN 978-3-86335-660-6 (englisch), Verlag der Buchhandlung Walther König.
Künstlerinnen …..
Auffallend in Aachen ist allerdings der geringe Anteil an Exponaten von Künstlerinnen. Vermutlich ist das der damaligen frauenfeindlichen Situation geschuldet, von der auch nicht der Kunstbereich ausgenommen war. Aber wer heute meint behaupten zu können, dem wäre nun nicht mehr so, irrt kolossal.
In Aachen präsent:
Claudia von Alemann, Bettina von Arnim, Dieter Asmus, Association Buren Mosset-Parmentier-Toroni, Ulrich Baehr, Georg Baselitz, Thomas Bayrle, Joseph Beuys, Klaus Peter Brehmer, Marcelo Brodsky, Peter Brüning, Günter Brus, Gernot Bubenik, Henri Cartier-Bresson, Christo, Carlfriedrich Claus, Jürgen Claus, Mario Pasquale Comensoli, Gerd Conradt, Philipp Corner, Dick Higgins, George Maciunas, Lutz Dammbeck, Jacequilene de Jong, Guy Debord, Art in Destruction Symposium (DIAS), Daniel Dezeuze, Hans-Jürgen Diehl, Braco Dimitrijević, E.A.T., Hartwig Ebersbach, Erró, Valie Export,
Hans-Peter Feldmann, Henry Flynt, Gisèle Freund, Jochen Gerz, Sam Goodman, Johannes Grützke, Milan Grygar, Renato Guttuso, Hans Haacke, Dieter Hacker, Raymond Hains, Richard Hamilton, Duane Hanson, Axel Heil, Bernhard Heisig, Lynn Hershman Leeson, Rudolf Herz, Karl-Horst Hödicke, Dorothy Iannone, Jörg Immendorff, Wladimir Jankilewskij, Allen Jones, Franz Kaltenbäck, Anselm Kiefer, Edward Kienholz, Barbara Klemm, Milan Knížák, Jiří Kolář, Arthur Køpcke, Josef Koudelka, Jannis Kounellis, Projektgruppe Kunst und Politik / KuPo (Frank Herzog, Gisbert Lange, Manfred Schnell, Manfred Wilhelms), Bernhard Larsson, Maria Lassnig, Uwe Lausen, Jean-Jacques Lebel, Roy Lichtenstein, Harold Liversidge, Boris Lurie, George Maciunas, Holger Meins, Mario Merz, Gustav Metzger, Harald Metzkes, Lutz Mommartz, Otto Muehl, Peter Nagel, Bruce Nauman, E.R. Nele, Siegfried Neuenhausen, Marcel Odenbach, Yoko Ono, Name June Paik, A.R. Penck, Wolfgang Petrick, Walter Pichler, Otto Piene, Polke, Sigmar, Heimrad Prem, Robert Rauschenberg, Robert Rehfeldt, Chris Reinecke, James Rosenquist, Martha Rosler, Mimmo Rotella, Dieter Roth, François Rouan, Saint Phalle de, Niki, Helke Sander, Eugen Schönebeck, Willi Sitte, Peter Sorge, Nancy Spero, Daniel Spoerri, SPUR, Alina Szapocznikow, Aldo Tambellini, Joe Tilson, Jean Tinguely, Werner Tübke, Günther Uecker, Timm Ulrichs, Claude Viallat, Jacques Villeglé, Wolf Vostell, Franz Erhard Walther, Andy Warhol, Peter Weibel, Wiener Gruppe, Garry Winogrand, Lambert Maria Wintersberger, HP Zimmer,
Peter Weibel.
Soulèvements
Im vorigen Jahre präsentierte die Pariser Galerie nationale du Jeu de Paume http://www.jeudepaume.org eine von Georges Didi-Hubermann konzipierte und kuratierte äusserst bemerkens- und sehenswerte Ausstellung Soulèvements http://soulevements.jeudepaume.org/ (momentan bis 29.Juli 2018 im Museo Universitario Arte Contemporáneo de Mexico http://muac.unam.mx/expo-detalle-137-sublevaciones, danach ab September bis November 2018 in der Galerie de L’UQAM https://galerie.uqam.ca/en/home und Cinémathèque québécoise http://www.cinematheque.qc.ca/fr in Montréal).
Soulèvements behandelte sehr anschaulich die Historie des Aufstandes, seine Unterschiede in Handlung und Wirkung – in physischer, psychischer und philosophischer Hinsicht. Bedauernswert oder auch bezeichnend, dass diese Exposition bisher nicht in Deutschland zu sehen ist….
Wer sie nicht etwa in Mexico oder Montrál besuchen kann, dem ist das wertvolle Buch Soulèvements von Georges Didi-Huberman … mit Essais von Nicole Brenez, Judith Butler, Marie-José Mondzain, Antonio Negri und Jacques Rancière und einem Vorwort von Marta Gili, Jeu de Paume / Éditions Gallimard, 2016 – ISBN 978-2-07-019683-8 ans Herz zu legen.
Flashes of the Future – Die Kunst der 68er oder Die Macht der Ohnmächtigen“, Ludwig Forum, Aachen
Die grosse Aachener Schau mit dem weiteren Titel Die Kunst der 68er oder Die Macht der Ohnmächtigen überlässt es (zunächst) den Besucherinnen und Besuchern, die Ohnmächtigen auszumachen.
Sichtet man die Kunstwerke, kommt man doch zu dem Schluss, dass das kapitalistische System im Laufe der Jahrzehnte seine hässliche Visage zwar kosmetischen Eingriffen unterzog, heute daher phasenweise etwas moderat zu erscheinen versucht, wobei die monierten Tatsachen an Aktualität nicht und nie verloren.
La lutte continue !
Flashes of the Future – umfassend, aktuell, perspektivistisch. Und ein Pflichtprogramm für Pennäler samt Lehrpersonal….
Flashes of the Future – Die Kunst der 68er oder Die Macht der Ohnmächtigen – Ludwig Forum – bis 19.August 2018
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